ADHS Aufmerksamkeitsdefizit mit Hyperaktivität
Der 22-jährige Herr B. stellt sich in Begleitung seiner Mutter in der allgemeinpsychiatrischen
Ambulanz u.a. wegen depressiver Symptome (Traurigkeit, Ein- und Durchschlafstörungen,
Gefühllosigkeit und Leere, Sinnlosigkeitsgefühl, Konzentrationsstörung seit Kindheit, leichte
Ablenkbarkeit Versagensängste, Selbstwertprobleme) vor. Nachdem er sein Studium der
Chemie wegen Überforderung, Prokrastination und Verwahrlosung abbrechen musste, sei er
wieder zur Mutter gezogen.
Zwischenzeitlich war er für zwei Monate auf einer Spezialstation für junge Erwachsene mäßig
erfolgreich behandelt worden. Eine schizophrene und eine hirnorganische Erkrankung waren
mittels Bildgebung im Vorfeld ausgeschlossen worden.
Bei Übernahme in die Tagesklinik wirkte er immer noch verzweifelt, die Mutter berichtete von
einer Asperger- und ADHS-Diagnostik in der Kindheit, die die „Träumer-ADS-Variante“
bestätigt hatte. Eine kurzzeitige Behandlung mit Methylphenidat als Kind sei nach kurzer Zeit
wegen Übelkeit, des Gefühls eingemauert zu sein und geringem Effekt abgebrochen worden.
Bei der Vorstellung in unserer Klinik wog der Patient 137kg, bei 172cm Größe, mit einem BMI
von 46,3 bestand eine Adipositas III. Der Patient gab an, sich wenig zu bewegen, sich vorrangig
von Kohlenhydraten und Junk-Food zu ernähren, der Konsum illegaler Substanzen wurde
verneint, ebenso der Konsum von Alkohol und Nikotin.
In der biografischen Anamnese ließ sich eruieren, dass die Eltern seit 2003 getrennt seien, der
Vater sei selbständig mit einem eigenen Unternehmen. Der Kontakt zwischen Vater und Sohn
sei abgerissen. Die Mutter leide an Diabetes mellitus und habe massive sekundäre
Krankheitserscheinungen durch die Grunderkrankung, arbeite als Leitung in einem
Altenpflegeheim. Er habe eine 1,5 Jahre ältere Schwester, mit der es häufig Konflikte gebe. Er
sei mit dem Schulsystem nicht klargekommen, habe sich oftmals ausgeschlossen und wertlos
gefühlt und sei gemobbt worden.
Nach der Einschulung erfolgte bereits eine KJP-Vorstellung und Behandlung aufgrund von
Schwierigkeiten sich zu strukturieren, aufzuräumen und eine Tagesstruktur einzuhalten.
In dezweiten Klasse sei er sitzengeblieben, nach der Trennung habe er die Schule gewechselt und
sei 2008 zum Vater gezogen. 2011 sei er wieder zur Mutter gezogen und aufs Gymnasium
gegangen, habe sich dort fremd in der Klasse gefühlt und sich nur partiell integriert.
2014 hat er Abitur gemacht, 2015 hat er angefangen Chemie-Ingenieurwesen zu studieren.
2017 brach er dies wegen fehlender Motivation, Verwahrlosung und Depressivität ab.
In der Tagesklinik erfolgte wegen der Gewichtsproblematik und der ADHS-Symptomatik nach
standardisierter Testung medikamentös die Einstellung auf Bupropion und Medikinet adult,
was sich positiv auf seine gesamte psychische Situation und auch auf die Adipositas auswirkte,
da beide Substanzen gewichtsneutral bzw. appetitzügelnd wirken. Herr B. konnte am Anfang
nur schwer das tagesklinische Setting einhalten und erschien zu spät zu morgendlichen Runden
aber auch zu den Einzelterminen und Gruppenterminen, was nach Einstellung auf Medikinet
deutlich besser wurde. Im Therapieverlauf konnte sich Herr B. besser fokussieren, seine
Handlungsplanung und Selbststrukturierung verbesserten sich deutlich. Er selbst bemerkte die
Besserung in diesen Bereichen erst wesentlich später nach weiterer Aufdosierung des
Methylphenidat auf 50 mg. Dennoch blieben Defizite in der Arbeitsorganisation, der
Konzentration und Ablenkbarkeit weiterhin beobachtbar. Zeitgleich konnte er sich in einem
Wohnprojekt anmelden, sich mit einer Bewerbung befassen und es gelang ihm, sich für die Zeit
nach der Behandlung einen Job in einer Tankstelle zu organisieren. Da Herr B. vermutlich noch
weiter auf eine gewisse externe Strukturierung angewiesen zu sein schien und von einer festen
Tagesstruktur deutlich profitierte, wurde ihm zu einer Ausbildung statt einem erneuten
Studium geraten. Die Mutter zeigte sich in einem gemeinsamen Gespräch hochbesorgt über
die weitere zu erwartende Entwicklung, konnte in ihrer Helferrolle etwas gebremst werden,
was dem Patienten zuträglich war.
Gegen Ende der Behandlung zeigten sich die alten Konflikte verstärkt, u. a. nachdem die für ihn
trotz häufiger Konflikte auch unterstützend wirkende ältere Schwester ausgezogen war. Der
Kontakt zum Vater konnte im Laufe der Behandlung wieder aufgebaut werden, sodass im
weiteren Verlauf der Vater eine Zusage bezüglich der Finanzierung der weiteren Ausbildung
geben konnte.
Im persönlichen Kontakt wirkte Herr B. fassadär, freundlich und sozial angepasst, sehr bemüht,
sich sozial erwünscht zu verhalten. Er zeigte sich gut in die Gruppe integriert, schien sich teils
jedoch hinter einer nach außen getragenen „allumfassenden“ Kompetenz und Rhetorik zu
verstecken. Es blieb schwierig, an den Kern seiner Ich-Struktur heranzukommen und ihn
spürbarer zu erleben. In Gruppen war ihm dies zum Teil möglich. Es fiel ihm schwer, positive
Rückmeldungen anzunehmen. Eine therapeutische Arbeit war aufgrund der persistierenden
strukturellen Störung kaum möglich, im Vordergrund standen Ich-stützende Maßnahmen und
eher ein pädagogisches Coaching.
Nach der Entlassung aus der Tagesklinik und Weiterversorgung in unserer PIA-Ambulanz
gelang es Herrn B., sich sukzessive von den familiären Strukturen zu lösen, für sich selbst zu
sorgen und ein für ihn geeignetes Studium zu absolvieren und eine Stellung im öffentlichen
Dienst anzusteuern. Es gelang hingegen nicht, eine geeignete Psychotherapie für ihn zu finden,
insbesondere nach Angaben der ADHS-Diagnose lehnten viele Therapeuten und Psychiater
eine Behandlung des Patienten ohne Nennung weiterer Gründe ab, sodass er auch jetzt noch
in unserer Ambulanz behandelt wird.
Autor: Patrick Klose